6:30. Der Wecker hatte Katrin vor 15 Minuten unbarmherzig aus dem Schlaf gerissen. Nun saß sie mit einer Tasse herrlich duftendem Kaffee am Esstisch. Hier konnte sie überlegen, was heute alles zu erledigen war. Auf welche Aufgaben in der Volksschule sie sich vorbereiten musste. Nach der Scheidung vor zwei Jahren hatte Katrin beschlossen, wieder in ihren Job als Lehrerin – heute sagt man ja „Schulpädagogin“ – an einer Volksschule einzusteigen. Luca war damals bereits 9 Jahre alt und schon sehr selbständig. Sie streckte ihre Fühler aus und nahm Kontakt mit ehemaligen Kolleginnen auf. Es bot sich tatsächlich die Gelegenheit, an der Volksschule Haferkampstraße die Stelle als Zweit-Pädagogin einer dritten Klasse anzunehmen. Und seit heurigem Schulbeginn führte sie bereits selbst eine erste Klasse.
Katrin durchdachte den Tagesablauf gerne schon in aller Ruhe am Morgen. So konnte sie stets gut in den Tag starten. Sie nahm einen Schluck Kaffee und überlegte gerade, welches Aufgabe sie den Kindern heute als Thema zum Zeichnen vorgeben sollte.
„Ja mein Schatz?“, fragte sie in stiller Vorahnung, dass ihr 11-jähriger Sohn bestimmt wieder eine seiner frühmorgendlichen Weisheiten zum Besten geben würde. Mittlerweile war es 7:00 Uhr vorbei und Luca war aus seinem Zimmer im Stock kommend ganz leise an den Esstisch herangetreten. Er war für sein Alter kognitiv schon weit entwickelt und in der Lage, Ereignisse und Hintergründe zusammenhängend in Verbindung zu bringen. Katrin war immer wieder überrascht, wie sich sein Verstand und seine Auffassungsgabe auch in seiner sprachlichen Kompetenz niederschlugen. Er suchte für jedes Phänomen eine Erklärung. Für jedes Ereignis eine Ursache. Und das nur, um diese Erkenntnis bei passender Gelegenheit an andere weitergeben zu können. Das hatte zwar manchmal auch schon etwas „Neunmalkluges“ an sich, sie freute sich dennoch über seine Entwicklung.
Sie nahm einen weiteren Schluck aus der Kaffeetasse, betrachtete die Eiskristalle, die sich auf den nackten Ästen vor dem Küchenfenster gebildet hatten, und lauschte erwartungsvoll den Ausführungen ihres Sohnes.
Luca hatte mittlerweile die vorbereitete Schüssel mit den Frühstücksflocken von der Küchenarbeitsplatte geholt und sich ebenfalls an den Tisch gesetzt. Mit fester Stimme verkündete er: „Also, ich denke, in meinem Körper ist immer Sommer.“
Katrin musste unweigerlich schmunzeln. Schon der Gedanke an den Sommer rief Erinnerungen an den letzten Kroatien-Urlaub auf Cres hervor. Es war traumhaft. Sie waren schnorcheln, bauten Sandburgen und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Ganze 10 Tage erfreuten sie sich der schönen, naturbelassenen Schönheit auf der kroatischen Insel.
Das Gluckern der Milch in der Schüssel mit den Frühstücksflocken holte Katrin wieder in die kalte Realität der winterlichen Garten-Landschaft zurück.
„Wie kommst du denn auf die Idee, mein Schatz?“, fragte sie schmunzelnd.
„Naja. Jetzt hat es draußen -5 ° und in meinem Körper hat es 36 °. So heiß ist es bei uns im Sommer. Also muss in meinem Körper Sommer sein. Und wenn ich Fieber habe, ist da sogar Hochsommer in mir.“
Trotz ihrer morgendlichen Müdigkeit war Katrin sofort hellwach und prustete Kaffee quer über den Esstisch. Damit hatte sie nun nicht gerechnet. Sie griff nach einer Serviette, um den Tisch wieder sauber zu machen.
„Sohn, du bist ein Wahnsinn.“, wandte sie sich ihm zustimmend zu. Luca hatte es wieder mal „wissenschaftlich“ auf den Punkt gebracht. In seinem Körper war immer Sommer. Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Egal wie kalt es draußen war, wie viel sie zu tun hatte oder wie schlecht gelaunt sie sein mochte. In seinem und ihrem Körper würde einfach immer Sommer sein. Und damit Sonne scheinen.
Stolz sah sie ihrem Sohn in die Augen.
„Und du hast vollkommen recht. Wir haben den Sommer in uns. Und die Sonnenstrahlen werden uns immer und überall begleiten.“
Katrin entschied sich, heute anstatt der grauen Winterkleidung etwas Farbenkräftigeres anzuziehen. Die grüne Jean und eine Bluse mit bunten Schmetterlingen. Und dazu eine leichte, hellgrüne Strickweste. Das würde ihr Sommer-Hochgefühl noch zusätzlich verstärken.
„Das wird ein schöner, sommerhafter Tag mitten im Januar.“, sagte sie zu Luca, als sie die Wohnung verließen.
Während der Fahrt zur Schule durfte er trotz der morgendlichen Stunde über Katrins Mobiltelefon seine Großmutter anrufen.
„Guten Morgen Leni. Du, ich muss dir dringend etwas über den Sommer erzählen…!“
EPILOG (Luca):
„Guten Morgen Leni. Du, ich muss dir dringend etwas über den Sommer erzählen. Hast du in dir auch den Sommer?“
Oma antwortet nicht.
„Oma?“, frage ich in das Handy, „Hallo, bist du da?“
„Ja Luca. Ich höre dich schon. Aber ich hab nicht kapiert, was du gesagt hast. Um was geht’s da?“, fragt sie mich.
„Also pass auf, das ist ja ganz leicht. Wenn ich 36 Grad in mir habe und der Sommer hat auch 36 Grad, dann muss ich den doch in mir haben.“